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VeRliebt in ArizonA

Wings of the West Buch 4

Übersetzt von Stefanie Kersten

Arizona-Territorium
1877

Kopfgeldjäger Cale Walker ist nach Tucson gereist, um J. Howard „Hank“ Carlisle auf Bitten seiner Tochter Tess zu suchen. Hank hat Cale unter seine Fittiche genommen, bevor ein Streit die beiden entzweite und Cale durch einen Puma-Angriff beinahe ums Leben kam. Er wurde von einer Gruppe Nednhi-Apachen gerettet, die seine Wunden für ein mächtiges Omen hielten. Deshalb führte man ihn in die Kunst eines di-yin ein, eines Schamanen. Um Hank zu finden, muss Cale sich zu den Dragoon Mountains begeben und sich mit zwei Welten auseinandersetzen, die nicht länger im Gleichgewicht sind. Doch er hat noch ein viel größeres Problem – sich in das Herz einer jungen Frau zu schmuggeln, die entschlossen ist, das Leben an sich vorbeirauschen zu lassen.

Zwei Jahre lang hat Tess Carlisle versucht, die seelischen und körperlichen Wunden eines tödlichen Angriffs durch einen der Männer ihres Vaters zu heilen. Dem Brauchtum ihres mexikanischen Erbes folgend, hat sie ihre Fähigkeiten als cuentista verfeinert, eine Erzählerin und Bewahrerin der Traditionen. Doch seit dem Angriff hat sie keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater und befürchtet das Schlimmste. Tess weiß, dass es gefährlich werden kann, sich erneut in Hank Carlisles Welt zu wagen. Ihre einzige Hoffnung ist Cale Walker. Einem Mann wie ihm ist sie noch nie begegnet. Entschlossen, sich auf eine Reise zu begeben, die sie direkt in die Arme ihres Angreifers führen könnte, sammelt sie all ihren Mut und stählt ihr Herz. Doch Cale weckt in ihr sehnsuchtsvolle Gefühle, denen sie längst abgeschworen hatte: Liebe.

Erhältlich als E-Book und Print-Ausgabe.

Rezensionen

„Fiese Bösewichte, jede Menge Action, eine starke Heldin, überraschende Wendungen, ein sexy Cowboy und eine sinnliche Liebesgeschichte – dieser historische Western-Liebesroman bietet von allem und für alle etwas.“ ~ Janna Shay, InD’tale Magazine

 

„… ergreifend und fesselnd … kaum aus der Hand zu legen.“ ~ Chanticleer Book Reviews

kapitel eins

Arizona-Territorium

In der Nähe von Tucson

August 1877

 

Die Simms-Ranch lag verlassen, keine Menschenseele war in Sicht. Daher beschloss Cale Walker, auf die Rückkehr der Familie zu warten und inzwischen sein Pferd in der Scheune zu versorgen.

 

Als er das Tier an das Nebengebäude heranführte, trug die schwüle Spätsommerbrise plötzlich die Stimme einer Frau zu ihm herüber. „Er wurde von einem león de montaña – einem Berglöwen – angegriffen, und es war so schrecklich.“

 

Cale verhielt mitten im Schritt.

 

„Er hatte so viel Blut verloren“, fuhr die Frau fort, in deren Aussprache ein leichter mexikanischer Akzent mitschwang. „Die Apachen wussten nicht, ob sie ihn retten konnten. Sein Schicksal lag allein in den Händen ihres Schöpfers Yusn.

 

„Was ist mit ihm passiert, Tante Tess?“, fragte ein Junge aufgeregt und neugierig.

 

„Er überlebte. Die Apachen erkannten seinen starken Geist. Er war vom león de montaña gezeichnet worden, und das war etwas Besonderes. Also lehrten sie ihn die Gebräuche ihres Volkes. Sie brachten ihm das Wissen über ihre Medizin bei, und er wurde zu einem di-yin.“

 

Sie erzählt eine Geschichte über mich, dachte Cale.

 

„Was ist das?“, wollte der Junge wissen.

 

Cale schob seinen Stetson ein wenig höher und lauschte angestrengt. Würde die Frau die Bedeutung auch richtig wiedergeben?

 

„Ein chamán.“

 

„Hm?“

 

„Ein medicina Mann“, versuchte die Frau es anders.

 

Der Junge verstand offenbar immer noch nicht.

 

„Ein Doktor“, fuhr sie fort.

 

„Oh.“

 

Cale sah sie nicht, doch er konnte praktisch fühlen, wie dem Jungen ein Licht aufging und sich seine Augen erstaunt weiteten.

 

„Ein Dokta“, mischte sich der Stimme nach ein kleines Mädchen ein.

 

„Genau, Molly Rose“, antwortete Tante Tess.

 

Das musste die Tess sein, die ihn hierhergeführt hatte. Hanks Tochter. „Muy buena. Und jetzt ab mit euch ins Haus, damit wir essen können. Te vas.“

 

„Soll ich dir helfen?“, fragte der Junge.

 

„Nein, Robbie, das schaffe ich alleine“, erwiderte Tess. „Ich komme nach, in un momento.“

 

Cale hörte, wie die Kinder die Scheune verließen, rührte sich aber nicht vom Fleck. Tess blieb ebenfalls, wo sie war, was ihm das Gefühl gab, als würde er ihr nachstellen. Während er noch überlegte, wie er sich am besten bemerkbar machen sollte, schnaubte sein Pferd.

 

Danke, Bo.

 

„Ist da jemand?“, rief Tess, kam jedoch nicht in seine Richtung.

 

Cale runzelte die Stirn. Hatte sie Angst vor ihm? Gab es hier etwa öfter Angriffe von Verbrechern oder Plünderungen durch Apachen, die ihr Grund gaben, so vorsichtig zu sein?

 

„Ja“, rief er schließlich und umrundete die Ecke der Scheune.

 

Da stand Tess Carlisle in einer weißen Bluse und einem bunt gemusterten Rock neben einem Heuballen. Das schwarze Haar hing ihr in einem geflochtenen Zopf über die Schulter, doch da die Sonne sie von hinten durch das offene Scheunentor anstrahlte, konnte Cale ihr Gesicht nicht genau erkennen. Sie wirkte jedoch jung und hübsch und schien überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihrem Pa, J. Howard Carlisle – oder Hank, wie Cale ihn nannte –, zu haben. Wahrscheinlich kam sie mehr nach ihrer Mutter, die Cale nie getroffen hatte.

 

„Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe“, meinte er. „Ich bin Cale Walker. Sie müssen Tess Carlisle sein.“

 

Seinen Namen kannte sie offenbar. „Oh, , schön Sie kennenzulernen.“ Allerdings machte sie keine Anstalten, ihm entgegenzukommen, was Cale etwas seltsam vorkam. „Dann wollen Sie mir also doch helfen. Mary war sich nicht sicher.“

 

Erst jetzt bemerkte er den Gehstock, auf den sie sich stützte, was auf eine Beinverletzung schließen ließ.

 

„Ich habe gehört, dass Sie nach Hank suchen. Aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen behilflich sein kann.“ Er zögerte kurz. „Geht es Ihnen gut?“

 

Tess schaute nach unten auf ihre hölzerne Stütze. „Mehr oder weniger. Das ist eine alte Verletzung. Möchten Sie ins Haus kommen? Ich wollte gerade das Mittagessen für die Kinder fertig machen. Tom und Mary sind mit dem Baby in der Stadt.“

 

„Ist alles in Ordnung?“

 

. Die Kleine hat nur etwas Husten. Der Arzt kann ihr bestimmt helfen.“

 

„Wenn Sie nichts dagegen haben, versorge ich zuerst mein Pferd. Es war ein langer Ritt.“

 

„Sind Sie den weiten Weg von Texas hierhergekommen?“

 

„Ja.“ Cale führte sein Pferd in eine der Boxen und löste den Sattelgurt.

 

„Ich werde nach den Kindern sehen“, sagte Tess. „Der Hauseingang ist dort drüben. Kommen Sie ruhig herein, wenn Sie fertig sind.“

 

„Sehr gerne.“

 

Sie drehte sich um, und obwohl sie sich schwer auf den Gehstock stützte, verließ sie die Scheune mit raschen Schritten. Cale sah ihr nach und fragte sich, was ihr wohl zugestoßen war und ob Hank seine Tochter irgendwie in Schwierigkeiten gebracht hatte.

 

Nachdem er Bo mit frischem Heu und Wasser versorgt hatte, machte er sich auf den Weg hinüber zu der großen Hazienda. Er folgte den Stimmen der Kinder bis in den Innenhof, wo ein Hund mit Schlappohren und kurzem Fell auf ihn zurannte und sich bellend vor ihm aufbaute.

 

„Cabal, ven aca!“, rief Tess streng aus der Küche.

 

Im Türrahmen stand ein Junge von etwa fünf oder sechs Jahren mit dunklen Haaren und Sonnenbrand im Gesicht. „Wer bist du?“

 

„Das ist Señor Walker, Robbie“, klärte Tess ihn von drinnen auf.

 

Der große, braune Mischlingshund bellte weiter. Tess tauchte auf ihren Gehstock gestützt hinter Robbie auf. „Cabal, bei Fuß.“

 

Der Hund gehorchte, behielt Cale jedoch fest im Blick.

 

„Ist das Ihr Wachhund?“, fragte Cale.

 

Lächelnd schaute Tess zu dem Tier hinüber, und die Liebe in ihrem Blick war unübersehbar. „Er ist ein guter Hund. Beißen würde er nicht, aber er braucht ein bisschen Zeit, bis er mit neuen Menschen warm wird. Sein Name ist Cabal.“ Sie legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. „Und das hier ist Robbie Simms, Toms und Marys Ältester.“

 

Cale beobachtete fasziniert, wie sich Tess’ Gesichtsausdruck veränderte. In der Nähe des Jungen und des Hundes strahlte sie richtiggehend.

 

„Freut mich, dich kennenzulernen, Robbie.“ Cale ging in die Knie, um auf Augenhöhe mit dem Knirps zu sein.

 

„Bist du ein Kopfgeldjäger und willst mich mitnehmen?“, fragte Robbie.

 

Cale lächelte. „Nein. Ich möchte nur deine Ma besuchen.“

 

Hinter Tess’ Rock lugte ein kleines Mädchen hervor.

 

„Das ist Molly Rose.“ Tess wuschelte ihr liebevoll durch die Haare. „Sie ist drei.“

 

Molly Rose hielt drei Finger hoch, um ihr Alter zu betonen.

 

„Hallo, Molly“, erwiderte Cale. „Ich kenne noch eine andere Molly, deine Tante. Mit dem Namen bist du in guter Gesellschaft.“ Er wusste jedoch, dass das Mädchen noch zu jung war, um zu verstehen, dass „Tante Molly“ auch Cales Halbschwester war, also behielt er diesen Teil für sich.

 

Das Gesicht des Mädchens wurde von braunen Locken eingerahmt, und sie musterte ihn wachsam und neugierig zugleich.

 

„Es gibt Tortillas mit Bohnen. Möchten Sie mitessen?“, erkundigte sich Tess.

 

Cale nickte.

 

„Sie können sich gerne dort drüben waschen“, fügte sie hinzu und deutete auf einen Trog, der niedrig genug war, dass die Kinder auch hineinfassen konnten.

 

Als er seinen Hut abnahm, schnappte Molly Rose ihn sich vorsichtig und zog sich dann kichernd mit ihrer Beute in die Küche zurück. Cale beugte sich über den Trog und wusch sich mit einem Stück Kernseife den Schweiß und Staub der Reise ab. Danach fuhr er sich mit nassen Fingern durch die kurzen Haare und übers Gesicht, in der Hoffnung, halbwegs präsentabel auszusehen.

 

Er betrat die Küche, als Tess gerade einen Topf mit Bohnen vom Herd nehmen wollte.

 

Eilig ging er zu ihr hinüber. „Ich helfe Ihnen.“

 

Gracias“, bedankte Tess sich und machte ihm Platz.

 

Cale stellte den Topf auf den Tisch, und sie nahmen auf den Bänken Platz, er auf der einen und Tess mit den beiden Kindern links und rechts von sich auf der anderen Seite. Gleichzeitig griffen sie nach dem Schöpflöffel, und ihre Hände berührten sich flüchtig.

 

Perdón“, murmelte Tess, ohne ihn anzusehen.

 

Sie schaufelte rote Bohnen in vier Schüsseln und reichte je eine den Kindern und Cale, bevor sie die letzte vor sich selbst abstellte. Dann gab sie Tortillas an alle aus und goss Wasser aus einer Karaffe in die Tassen ein.

 

„Haben sie etwas von mi padre gehört?“, fragte Tess irgendwann und suchte dabei nun doch Cales Blick. Ihre grünen Augen fesselten einen Moment lang seine Aufmerksamkeit, da er so eine ungewöhnliche Farbe noch nie gesehen hatte. Es war, als würden sich die smaragdgrünen Hügel von Irland, von denen Hank oft schwärmte, in den Augen seiner Tochter spiegeln.

 

„Nein. Ich habe Hank seit vier Jahren nicht mehr gesehen.“

 

„Er hat keinen Kontakt zu Ihnen aufgenommen? Haben Sie gemeinsame Bekannte?“

 

„Nein. Und ja, haben wir. Unsere Wege haben sich achtzehnhundertdreiundsiebzig getrennt, kurz bevor er Sie nach dem Tod Ihrer Mutter zu sich geholt hat. Seitdem war ich nicht mehr in dieser Gegend. Ist er nicht bei Ihnen geblieben?“

 

„Ich denke, Sie kennen Hank recht gut“, erwiderte sie. „Da wird es Sie wohl nicht überraschen, dass er es nicht lange an einem Ort aushält und er mich einfach mitgenommen hat.“

 

Unwillkürlich fragte Cale sich, ob sie sich während dieser Zeit verletzt hatte. Hank hatte kein geruhsames, friedliches Leben gepflegt. „Für wie lange?“

 

„Zwei Jahre. Dann hat er mich hierher gebracht. Danach habe ich nichts mehr von ihm gehört.“

 

„Warum wollen Sie ihn jetzt finden?“

 

„Ich bin achtzehn Jahre alt.“ Tess hob stirnrunzelnd den Löffel auf, den Molly Rose fallen gelassen hatte, und wischte ihn mit einem Lappen ab, ehe sie ihn dem Mädchen zurückgab. „Ich kann nicht ewig hier leben, auch wenn Tom und Mary mich mit offenen Armen aufgenommen haben.“

 

„Doch, kannst du“, mischte Robbie sich ein. „Wir wollen nicht, dass du gehst.“

 

„Ich werde nicht gehen“, entgegnete sie, wandte sich dann aber wieder an Cale. „Aber ich muss wissen, wo Hank sich aufhält, damit ich eine Entscheidung über meine Zukunft treffen kann. Er ist alles, was mir noch an Familie geblieben ist.“

 

„Heiratest du diesen Esteban?“, wollte Robbie wissen.

 

„Nein, Robbie, tue ich nicht.“

 

„Wenn du auf mich wartest, könnten wir heiraten.“ Man sah ihm an, wie ernst es ihm damit trotz seiner jungen Jahre war.

 

Tess lächelte nachsichtig, und Cale musste feststellen, dass auch er gegen ihren Charme nicht immun war. „Dann werde ich warten“, sagte sie.

 

„Wirklich?“ Robbie grinste, plötzlich wieder ganz der kleine Junge, und stopfte sich eine Tortilla in den Mund.

 

So schnell konnte es gehen, dass eine Frau jemandem versprochen war. Der Gedanke amüsierte Cale.

 

Die Kinder hoben den Kopf, als draußen eine Kutsche ratternd in den Hof einbog. Als Tess und die beiden sich erhoben, folgte Cale ihnen nach draußen. Ein Mann und eine Frau mit einem Baby auf dem Arm kamen auf das Haus zu.

 

Die dunkelhaarige Mary Hart sah noch fast genauso aus wie das Mädchen, das er in seiner Jugend gekannt hatte. Sie blieb wie angewurzelt stehen. „Cale Walker?“ Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und sie umarmte ihn vorsichtig mit dem Säugling in ihrem Arm.

 

„Es ist schön, dich wiederzusehen, Mary.“

 

„Vielen Dank, dass du gekommen bist. Und Molly … meine Güte, wie geht es ihr?“ Sie strahlte übers ganze Gesicht, voller Vorfreude auf Neuigkeiten von ihrer totgeglaubten Schwester.

 

„Sehr gut. Ich weiß, dass sie sich auch auf dich freut.“

 

„Mama, ich bin Molly“, mischte sich die kleine Namensvetterin neben Tess leise ein.

 

„Natürlich bist du das, Schätzchen.“ Mary beugte sich hinunter, um ihre Tochter an sich zu drücken. „Ich spreche von deiner Tante Molly.“ Dann deutete sie auf den Mann neben sich. „Cale, das ist mein Ehemann Tom Simms.“

 

Cale schüttelte Tom die Hand. „Schön, dich kennenzulernen.“

 

„Ebenso“, erwiderte Tom.

 

Der Mann war sehnig und gebräunt, und seine herzliche Ausstrahlung ließ in Cale Dankbarkeit aufsteigen, dass die kleine Tändelei zwischen ihm und Mary vor vielen Jahren sich in herzliche Zuneigung gewandelt hatte.

 

„Hast du den Rest der Familie schon kennengelernt?“, erkundigte sich Tom.

 

Cale nickte. „Bis auf den jüngsten Spross.“

 

Mary drehte das Kind herum, sodass er das Gesicht sehen konnte. „Das ist Evelyn.“

 

„Sie ist wunderschön.“

 

„Ich muss sie für ihr Nickerchen hinlegen, aber ich hoffe sehr, dass wir uns nachher unterhalten können.“

 

Cale zögerte kurz, griff dann aber in seine Hemdtasche und holte den Brief hervor, den er darin verwahrt hatte. „Molly hat mich gebeten, dir den zu geben. Du solltest ihn wohl lieber lesen, wenn du allein bist.“

 

Das schien Mary zu beunruhigen.

 

„Damit werden einige Fragen über die Ereignisse vor zehn Jahren beantwortet“, beschwichtigte er. Es erleichterte ihn zutiefst, dass nicht er selbst Mary erklären musste, was ans Licht gekommen war, seit ihre jüngere Schwester Molly vor ein paar Monaten quicklebendig und wohlauf in Texas aufgetaucht war.

 

Vor zehn Jahren war die Ranch der Harts in Nordtexas überfallen und Robert und Rosemary Hart dabei getötet worden. Ihre Tochter Molly war entführt worden, und man war davon ausgegangen, dass sie ebenfalls ermordet worden war. Cale hatte damals den bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Leichnam der Neunjährigen gefunden. Dieses Bild hatte er nie vergessen können. Mollys goldenes Kreuz war das einzige Mittel zur Identifizierung gewesen, doch wie sich herausgestellt hatte, war die Tote gar nicht Molly gewesen; sie hatte nur deren Kette getragen. Mollys Auftauchen, nachdem sie jahrelang bei Comanchen gelebt hatte, hatte alle überrascht. Dazu kam die Aufdeckung des Geheimnisses um Mollys Abstammung. Sie und Cale hatten den gleichen Vater. Auch das sollte Molly ihrer Schwester Mary lieber selbst sagen, daher der Brief.

 

„Danke.“ Mary nahm das gefaltete Papier entgegen.

 

Tom trat neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. „Alles in Ordnung?“

 

Sie nickte lächelnd.

 

„Ich kann Evie für dich hinlegen, damit du ein bisschen Zeit für dich hast“, bot Tess an.

 

Mary zögerte kurz, nahm das Angebot dann jedoch nickend an. Als Tess sich an Cale vorbeischob, stieg ihm kurz ihr Duft nach Rosmarin und Sonnenschein in die Nase. Den Stock in der linken Hand, nahm sie Evie mit dem freien Arm entgegen und verschwand rasch durch einen anderen Durchgang.

 

Tom gab Mary einen Kuss auf die Wange. „Lass dir Zeit.“

 

Einen Augenblick lang starrte sie nur auf den Brief, dann ging sie.

 

Tom wandte sich an Cale. „Das gibt uns die Gelegenheit, uns zu unterhalten. Robbie, pass bitte im Innenhof auf deine Schwester auf.“

 

„Ja, Sir.“ Der kleine Robbie nahm Molly Rose an der Hand und lief mit ihr zu einem Erdhaufen, auf dem einige Holzspielzeuge lagen.

 

Cale folgte Tom zurück in die Küche.

 

„Kaffee?“

 

„Gerne.“

 

Tom nahm den Kessel vom Herd und goss dampfende Flüssigkeit in zwei Blechtassen.

 

„Es ist schön, dich endlich persönlich zu treffen“, meinte Tom. „Mary schätzt dich sehr.“

 

„Ich bin froh, dass sie es so gut getroffen hat.“

 

Toms Blick sagte ihm, dass der Mann verstand, worauf Cale anspielte. Die Hart-Frauen – Mary, Molly und Emma – hatten nach dem Tod ihrer Eltern mehr Kummer erfahren, als ein Mensch verdiente. Sein Freund Matt Ryan hatte Molly geheiratet; seitdem kümmerten sich auch andere um die Schwestern.

 

Cale war mit Nathan Blackmore und Logan Ryan nach Fort Sumner geritten. Von dort aus war Texas Ranger Nathan auf der Suche nach Emma, die von ihrem Zuhause in San Francisco weggelaufen war, zum Grand Canyon aufgebrochen. Logan war nach Las Vegas im New-Mexico-Territorium unterwegs, wo er nach Mollys Freundin Claire sehen wollte. Und Cale war hierhergekommen, nicht nur, um Mollys Brief zu überbringen, sondern auch um auf Marys Wunsch hin Tess Carlisle zu helfen.

 

„Wir sollten über Hank Carlisle sprechen“, begann Tom ohne Umschweife.

 

„Weißt du, wo er ist?“

 

„Nicht genau, aber ich habe vielleicht eine Spur. Tess habe ich das nie erzählt. Sie ist fest entschlossen, ihn zu finden, und würde es wohl alleine versuchen. Mary hat sie überredet, auf dich zu warten. Ich kenne Hank, und ich weiß, mit welchen Leuten er sich umgibt. Tess sollte nicht einmal in deren Nähe kommen.“

 

„Dem stimme ich zu. Warum hat er sie bei euch gelassen?“

 

Tom zögerte und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Vor zwei Jahren ist er mit Tess hier aufgetaucht.“ Einen Moment lang starrte er nachdenklich in seine Tasse. „Sie war in einer ziemlich schlechten Verfassung.“

 

„Was ist ihr passiert?“

 

„Das weiß ich nicht“, erklärte Tom kopfschüttelnd. „Tess hat es mir nie erzählt. Mary gegenüber hat sie sich ein bisschen geöffnet, aber nicht viel. Sie wurde schwer verprügelt, und in ihrem Bein steckte eine Kugel. Wer auch immer das getan hat, war … gründlich. Glücklicherweise ist sie nicht schwanger geworden. Hank hat mich gebeten, mich um sie zu kümmern und niemandem davon zu erzählen; danach ist er verschwunden. Seitdem haben wir ihn nicht mehr gesehen, aber während der ersten paar Monate hat er noch Geld geschickt. Er hat uns aber nie mitgeteilt, wo er sich gerade aufhält. Vielleicht ist der Mistkerl tot, ich weiß es nicht. Vielleicht wollte er den Halunken erwischen, der Tess das angetan hat. So wie ich Hank kenne, hätte er es ihm zehnfach zurückgezahlt.“

 

Das konnte Cale nur bestätigen. Hank Carlisle war gnadenlos, das hatte er mit eigenen Augen gesehen. Letzten Endes war das einer der Gründe gewesen, warum Cale sich von seinem Mentor distanziert hatte. Das und Saul Miller.

 

„Was weißt du noch?“, fragte Cale.

 

„Vor etwa sechs Wochen habe ich mitbekommen, wie ein Händler in der Stadt von einem kleinen Amboss erzählte, den er einem Henry Worthington in Tubac geliefert hat. Auf dem Bestellschein ist mir ein anderer Name ins Auge gefallen: Carleton Perry. Das Geld für Tess kam nicht von Hank, sondern von einem Carleton Perry, also gehe ich davon aus, dass er sich hinter dem Namen versteckt.“

 

„Damit könntest du recht haben“, erwiderte Cale leise. Hank hatte Carleton Perry schon früher als Decknamen benutzt.

 

„Ich bin dir dankbar, dass du hergekommen bist. Ich würde ja selbst nach Hank suchen, aber ich kann Mary und die Kinder nicht allein lassen.“

 

„Habt ihr Probleme mit den Apachen?“

 

„Nein. Wenn man dem Gerede in Tucson Glauben schenkt, wimmelt es hier nur so von ihnen. Aber die Gerüchte stammen von Geschäftsleuten, die in den Zeitungen gerne mal übertreiben und manchmal sogar blanke Lügen verbreiten. Das hält das Militär vor Ort, was ihnen mehr Kunden verschafft, an die sie ihre Waren verkaufen können. Aber nachdem Geronimo im Moment in San Carlos im Gefängnis sitzt, scheinen die Spannungen etwas nachgelassen zu haben.“

 

Das konnte Cale nachvollziehen. „Wie läuft es mit der Ranch hier draußen?“

 

„Es reicht zum Leben. Fort Lowell kauft einen Großteil des Rindfleischs. Natürlich profitieren wir alle von den stationierten Soldaten. Aber ich habe mich entschieden, mein Land zu verkaufen und in die Stadt zu ziehen. Einen Käufer habe ich schon in Aussicht, und ich habe die Möglichkeit, mich in eine Mühle einzukaufen. Das verschafft Mary ein schöneres Zuhause, und Robbie kann zur Schule gehen. Auch wenn Mary das nie laut sagen würde, glaube ich, dass sie hier draußen einsam ist. Tess bei uns zu haben war ein unglaublicher Segen“, vertraute Tom ihm an. „Hank kenne ich allerdings nicht besonders gut. Mary hat sich vor ein paar Jahren mit Isabella, Tess’ madre angefreundet, und wir sind uns immer mal wieder über den Weg gelaufen. Ich mochte Hank, auch wenn er gegenüber seiner Familie nur wenig Verantwortungsgefühl zeigte. Aber sei vorsichtig. Was auch immer Tess zugestoßen ist, könnte auch dich in Schwierigkeiten bringen.“

 

„Ich verstehe“, erwiderte Cale. „Wenn Hank noch lebt, werde ich ihn finden. Ich reite bei Morgengrauen los, bevor Tess aufsteht.“

 

„Sie wird nicht glücklich darüber sein, dass sie zurückbleiben muss.“

 

„Das klingt nach Hank.“

 

Tom lachte. „Sie ist definitiv ganz seine Tochter.“